Leben und Werke des Marquis de Sade. Sein Charakter und Geisteszustand.

Donatien Alphonse François, Marquis de Sade wurde als Sprössling einer der vornehmsten und ältesten provençalischen Adelsfamilien am 2. Juni 1740 in Paris geboren. In die lange Reihe seiner Vorfahren gehört jene mit Hugo de Sade vermählte Laura von Noves, die Petrarca an einem Karfreitag, am 6. April 1327, in der Kirche Santa Chiara zu Avignon zum ersten Male erblickte. Ihre von der Poesie verklärte Lichtgestalt war es, die den Oheim und Erzieher unseres Marquis, den gelehrten Abbé de Sade (gestorben 1778), zu seinen einst hochgeschätzten „Mémoires sur la vie de Pétrarque“ (in drei Bänden, 1764 bis 1767) begeisterte. Ein grausamer Witz der Literaturgeschichte hat so die Objektivation selbstlosester, fast unirdischer Liebessehnsucht und den literarischen Hauptvertreter unerhörtester erotischer Ausschweifung und Verirrung in derselben Familie zu greller Kontrastwirkung vereinigt. Der Vater unseres Marquis war Diplomat, die Mutter Ehrendame der Prinzessin Condé, in deren Hause der junge de Sade geboren wurde. Seine erste Erziehung leitete jener gelehrte Oheim in der Abtei Ebreuil; von dort kam der Knabe auf das Collège Louis le Grand in Paris, trat nach damaliger Sitte schon mit 14 Jahren bei den Chevauxlegers ein und wurde der Reihe nach Unterleutnant, Leutnant, Kapitän bei verschiedenen Kavallerie-Regimentern; in dieser Eigenschaft hatte er Gelegenheit, den Siebenjährigen Krieg - bekanntlich keinen besonderen Ruhmestitel der französischen Armee - mitzumachen. Nach Paris zurückgekehrt, heiratete er mit 23 Jahren die Tochter des Präsidenten Montreuil. Sie soll von einnehmendem Äusseren und sanftem Charakter gewesen sein, wusste ihren Gatten jedoch offenbar wenig zu fesseln, so dass er, wie es heisst, schon vom Jahre der Verheiratung an sich einem ausschweifenden Leben hinzugeben anfing. Er wurde jedenfalls in demselben Jahre wegen unbekannter, in einem Bordell begangener Exzesse in Vincennes eingesperrt, aber wie es scheint ziemlich bald wieder entlassen. Später soll er in Gesellschaft einer Schauspielerin, die er für seine Frau ausgab, auf seinem Schlosse Contat gelebt haben. Der im nächsten Jahre (1767) erfolgte Tod des Vaters verschaffte de Sade die Nachfolge als Generalleutnant für Bresse, Bugey und Valromey, doch mochte er zu dieser Zeit schon zu sehr in den Strudel sinnlicher Ausschweifungen versunken sein, um für eine ernstere Lebenshaltung und Pflichterfüllung noch die nötige Befähigung zu besitzen. Gleich im darauf folgenden Jahre lenkte er durch eine Skandalaffäre, die auch zu gerichtlichem Einschreiten Anlass gab, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich und lieferte eine Probe dessen, was von seiner Lebensführung und deren späterer literarischer Fruktifikation noch erwartet werden durfte. Er hatte am 3. April 1768 durch seinen Kammerdiener, den Vertrauten aller seiner Ausschweifungen, zwei Freudenmädchen nach einem ihm gehörigen Hause in Arcueil führen lassen und ausserdem selbst eine Frau, der er zufällig begegnet war, Rosa Keller, die Witwe eines Pastetenbäckers, dahin gelockt, sie eingeschlossen und mit vorgehaltener Pistole gezwungen, sich vollständig zu entkleiden, ihr die Hände gebunden und sie bis aufs Blut gepeitscht; darauf hatte er sie in diesem Zustande verlassen, um sich zu den beiden Mädchen zu begeben und

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