"Varnhagen v. Ense schreibt mir: Unter den Seltsamkeiten, die bisweilen wie Seuchen über ganze Städte und weite Länderstrecken sich ausbreiten, kam in Paris 1820 oder vielleicht schon 1819 der schändliche Mutwill auf, dass Leute, die man nach ihrem Treiben Piqueurs nannte, abends auf den Strassen, besonders auf den Boulevards und im Palais Royal alle Frauenzimmer mit spitzigen Werkzeugen, die sie teils in der Hand verbargen, teils in Stöcken oder Schirmen angebracht hatten, zu stechen beliebten. Am liebsten in die Hinterteile, die Schenkel usw., meist nur leicht, aber immer blutig und oft schwer und gefährlich. Alle Frauen, vornehm oder gering, alt und jung, waren dem ausgesetzt, niemals erstreckte sich der Unfug auf die Männer. Dies dauerte in Paris mehrere Wochen, und die Täter blieben stets unentdeckt. Dann hörte die Sache wieder von selbst auf. In London war es bei schwachen Versuchen geblieben, so auch in Brüssel. In Deutschland lieferten, so viel ich mich erinnere, nur Hamburg und München einige Beispiele, die schnell vorübergingen.“ Charlotte v. Schiller fügt hinzu: „Dass auch in Bayern die Piqueurs ihr Wesen treiben, erschreckt mich. Es ist ein so gewaltiges Streben, anderen Schmerzen zu machen und so viel Tücke dabei.“

Wir werden später sehen, dass diese letztere Auffassung glücklicherweise nicht immer zutrifft, sondern dass auf diesem Gebiete neben dem echten Sadistentypus auch rein psychopathologisch aufzufassende Fälle vielfach in Betracht kommen. Als sadistisch oder pseudosadistisch betrachten wir dem Obigen zufolge den bereits in allen Einzelheiten aus der kriminalistischen Erfahrung bekannten und auch in der Literatur - man denke an Jacques in Zolas „bête humaine“ - geschilderten Typus des Lustmörders - und so auch den des Leichenschänders, des Nekrophilen. Auch letzterer ist neuerdings literaturfähig geworden (in Gustav Klitsches Novelle „Der Mörder der Schönheit“). Bei der Nekrophilie könnte es zunächst zweifelhaft erscheinen, ob es sich hier in der Tat um eine „algolagnistische“ Perversion handelt, da ja dem Opfer dieser Passion ein Schmerz nicht mehr zugefügt werden kann. Allein es ist zu bedenken, dass dieser Schmerz in der Phantasie des geistig herabgekommenen Täters doch sehr wohl angetan werden kann, indem entweder der geschändete Körper als noch lebend vorgestellt, oder der Eindruck der Schändung als über Tod und Grab hinaus sich erstreckend imaginiert wird; ausserdem aber kann die Lustempfindung des sadistischen Täters in der früher erörterten Weise auch durch das grandiose Hinwegsetzen über alle göttlichen und menschlichen Gesetze, durch das Grauenhaft-Entsetzliche des Vorgangs gerade für diesen Akt mächtig angeregt und erhöht werden. Dass Lustmord und Nekrophilie wahlverwandt sind, psychisch eng zusammenhängen, das bekräftigen zahlreiche Beispiele bei de Sade, dessen Helden mit Vorliebe nicht bloss im Begattungsakte selbst den Tod ihrer Opfer herbeizuführen suchen, sondern auch an der postmortalen Begattung der zu Tode gemarterten Opfer ihrer Lüste unsägliche Befriedigung finden; es mag dafür auch noch eine, die nahe Zusammengehörigkeit der scheinbar heterogensten psychosexualen Abnormitäten

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