sitzen wir verschiedene, von Augenzeugen herrührende, nicht von Widersprüchen freie Schilderungen. Nach einer davon erscheint de Sade als ein kräftiger, die Gebrechen des Alters nicht an sich tragender Greis mit schönem weissen Haar, von würdevollem Aussehen, liebenswürdigem und überaus höflichem Benehmen, der dabei auf jede Anrede mit sanftester Stimme schmutzige Worte hervorsprudelte und bei seinen Spaziergängen im Hofe obszöne Figuren in den Sand zeichnete. Er arbeitete emsig an Schriften ähnlichen Inhalts und liess auf der Bühne des Irrenhauses selbstverfasste Theaterstücke zur Aufführung bringen: später soll er auch, mit Genehmigung des offenbar sehr toleranten Anstaltleiters, Abbé Culmier, Bälle und Konzerte arrangiert haben, die endlich der dabei stattgehabten Missbräuche halber auf ministeriellen Befehl (am 6. Mai 1813) untersagt wurden. Merkwürdig ist, dass ein sehr hervorragender Irrenarzt, der ärztliche Direktor von Charenton, Royer-Collard, auf das Dringendste die Entfernung de Sades aus der Irrenanstalt forderte, da er ihn nicht für geisteskrank hielt und seinen überaus schädlichen Einfluss auf die wirklichen Geisteskranken in wiederholten Eingaben betonte, während dagegen mehrere vornehme Damen sich lebhaft für de Sade verwandten und dessen Verbleiben in Charenton, wo er es augenscheinlich sehr gut hatte, bei dem Polizeiminister Fouché erbaten und durchsetzten. So starb denn de Sade als 74 jähriger Greis, nachdem er noch den Sturz Napoleons und die Restauration erlebt hatte, in dem Asyl, dessen Bewohner er seit nahezu 12 Jahren war, am 2. Dezember 1814. Von seinen Zeitgenossen haben ihn namentlich Rétif de la Bretonne (in den „Nuits de Paris“ und in der unter dem Pseudonym Lingnet herausgegebenenen Gegenschrift Anti-Justine), sowie Charles Nodier in seinen „Souvenirs“ - der in ihm ein unglückliches Willküropfer des Konsulats und des Kaiserreichs erblickte! - literarische Aufmerksamkeit gewidmet. Später hat Jules Janin in einem zuerst 1835 in der Revue de Paris erschienenen und in den „Catacombes“ wiederabgedruckten Aufsatz über das Leben und die Werke de Sades geschrieben, wobei jedoch mannigfache Irrtümer unterliefen. Weitere, zum Teil wertvolle biographische Notizen sind in dem anonym erschienenen Buche „Le Marquis de Sade“ (Brüssel, Gay und Doucé, 1881) enthalten. Neuerdings sind in Frankreich Abhandlungen über den Marquis de Sade von Marciat (Lyon 1899) und von Cabanès (1900) erschienen; einen Teil der von der Marquise de Sade an ihren Gatten gerichteten Korrespondenz hat Ginisty (grande revue 1899 Nr. 1) kürzlich herausgegeben. In Deutschland habe ich zuerst einen psychologischen Essai über den Marquis de Sade (Zukunft 1899, VII 26) veröffentlicht; im gleichen Jahre (1899) erschien dann die umfassende Monographie von Dr. Eugen Dühren „Der Marquis de Sade und seine Zeit, ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts“ (3. Aufl. bereits 1901), der nach wenigen Jahren desselben um die Sade-Forschung meistverdienten und auch vom Glücke besonders begünstigten Autors „neue Forschungen über den Marquis de Sade und seine Zeit; mit besonderer Berücksichtigung der Sexualphilosophie de Sades auf Grund des neuentdeckten Original-Manuskriptes seines Hauptwerkes „die 120 Tage von Sodom“ (Berlin 1904) folgten.

„Justine et Juliette“, de Sades bekanntestes und bis vor kurzem allgemein als seine einzige Schöpfung grösseren Stils angesehenes Werk, die Ursache und Quelle seiner herostratischen Unsterblichkeit, besteht aus zwei miteinander eng zusammenhangenden, wenn auch ursprünglich getrennt herausgegebenen Teilen. Der erste Teil, „Justine“, erschien anonym zuerst 1791, die Fortsetzung, „Juliette“, ebenfalls anonym 1796, das Ganze in zehn Bänden in Holland 1797. Diese mir vorliegende Gesamtausgabe trägt in ihren vier ersten Bänden

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