Fug und Recht gegen sie erbittert. Schliesslich wird sie wegen einer ihr fälschlich zugeschriebenen Brandstiftung- zum Tode verurteilt, entkommt aber aus dem Gefängnis und gelangt zufällig auf das Schloss ihrer Schwester, die sie von einer eben so glänzenden wie frivolen Gesellschaft umgeben antrifft. Sie erzählt Juliette ihre Geschichte, die einen der Zuhörer zu der Bemerkung veranlagst: „voilà bien ici les malheurs de la vertu“ und, auf die anwesende Juliette deutend: „là, mes amis, les prospérites du vice.“ Juliette, die es inzwischen zu grossem Reichtum und zum Range einer Gräfin Lorsanges gebracht hat, trägt nun ebenfalls ihre Geschichte vor, die zugleich die Geschichte ihrer wachsenden Erfolge ist; sie debütiert charakteristischerweise im Kloster, kommt dann zu einer Kupplerin, wird die Geliebte des allmächtigen Ministers Saint-Fond und die über unbegrenzte Mittel verfügende Anordnerin und Leiterin seiner heimlichen Orgien. Ein einziger Rückfall in die Tugend oder ein allzu skrupulöses Bedenken zieht ihr den Verlust dieser Stellung zu und nötigt sie zur Flucht; der treffliche Graf Lorsanges rettet und heiratet sie, wird von ihr aber seiner langweiligen Tugendboldigkeit halber verabscheut und bald vergiftet, worauf sie in Begleitung ihres Liebhabers eine an Abenteuern reiche Reise nach Italien antritt. Die einzelnen Etappen werden sehr genau beschrieben, namentlich der Aufenthalt am Hofe des Grossherzogs von Toskana (des späteren Kaisers Leopold des Zweiten), am päpstlichen Hofe und am Hofe des Lazzaronikönigs Ferdinand von Neapel und seiner tribadischen Königin Karoline, der Schwester Marie Antoinettes; endlich in dem noch republikanischen Venedig. Hier lebt sie als Kurtisane im grössten Stil, wird schliesslich in das Schicksal einer Freundin hineingezogen, die zwar Giftmischerei im kleinen gewerbsmässig verübt, aber vor einer ihr behördlich anbefohlenen Giftmischerei im grossen zurückschreckt - mehr aus „Mangel an Mut“ als an gutem Willen, wie die Erzählerin entschuldigend bemerkt - , und kehrt nach Frankreich zurück, wo sich die Verhältnisse inzwischen aufs günstigste für sie aplaniert haben. Die Schlussworte ihrer Erzählung enthalten eine triumphierende Apologie von Laster und Verbrechen, mit deren Hilfe sie es so herrlich weit gebracht hat. Justine ist aber nicht zu bekehren, und da Juliette sich weigert, eine solche „Prüde“ als Schwester anzuerkennen und im Hause zu behalten, so wird sie beim Herannahen eines Gewitters auf die Strasse geworfen und sogleich von einem Blitzstrahl getötet, vor den Augen der zuschauenden Gesellschaft, die in entzückten Jubel darüber ausbricht, dass der „Himmel“ die Tugend in solcher Weise belohne. Dies das nackte Gerippe der Handlung, die in ihrem Rahmen eine bunte Fülle von Gemälden erotischer Ausschweifungen und bluttriefender Orgien umschliesst und mit einer kaum minder breiten Fülle lehrhafter Exkurse in monologischer und dialogischer Form,

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