in die sie der Zufall hin und wieder versetzt - Juliette, zweiter und fünfter Band -, verlässt dieser „Glaube“ sie nicht und veranlasst sie, sich den Repräsentanten des Guten gegenüber, wo diese wirklich einmal vorübergehend obenauf kommen, mit dem selbstgewissesten Übermut zu benehmen und jenen ihren baldigen. Sturz vorauszusagen. Die Unterdrückung und Vernichtung der als „gemeinschädlich“ erkannten Tugend ist gewissermassen die Mission, die Pflicht und Aufgabe des Lasters; nicht nur im Einzelleben, sondern auch in den grossen Verhältnissen des staatlich-gesellschaftlichen Lebens, für dessen Organisation nach denselben Prinzipien an verschiedenen Stellen der Juliette beachtenswerte, wenn auch begreiflicherweise fragmentarisch gebliebene Anläufe gemacht werden.

Im vorhergehenden wurden schon mehrfach zwei Züge erwähnt, die - wenn wir von den sexualpathologisehen Momenten ganz absehen - in de Sades literarischer Physiognomie besonders auffällig hervortreten, sich aber doch mit den übrigen zu einer geistigen Einheit zusammenschliessen. Das ist der eigenartig gefärbte Atheismus de Sades und sein politischer Radikalismus.

Der Atheismus de Sades geberdet sich, wie wir sahen, inkonsequenterweise zugleich als ein fanatischer Misotheismus, der von dem bekannten Worte: „si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer“ nur Gebrauch zu machen scheint, um diesen eigens erfundenen Gott blasphemisch zu beschimpfen und zu verhöhnen. Dieser doktrinäre Atheismus schliesst natürlich auch, wie gewöhnlich, einen Hang zu kindisch-abergläubischem Mystizismus keineswegs aus, wovon wir das krasseste, zugleich furchtbarste und lächerlichste Beispiel in dem sehr breitgetretenen und mit geheimnisvoller Wichtigtuerei behandelten Ceremoniell Saint-Fonds finden, der sich mit den zum Tode bestimmten Opfern regelmässig einschliesst, um sie mit ihrem eigenen, aus der Nähe des Herzens entnommenen Blute einen Zettel unterzeichnen zu lassen, in dem sie ihre Seele dem Teufel verschreiben und den sie auf dem Wege einer nicht wiederzugebenden Inkorporation in die doch immerhin als möglich erachtete andere Welt mitnehmen müssen (Juliette, Bd. II, Seite 286 ff.). Auf der anderen Seite schlägt dieser Atheismus wieder in eine völlig anthropomorphistische Auffassung der Natur um, - nur dass diese als Vertreterin des Bösen personifizierte Natur statt des milden Gottesantlitzes eine Teufelsfratze zu tragen scheint, deren Kultus der zerstörten Gottesanbetung mit grimmigem Hohne pomphaft substituiert wird.

Der politische Radikalismus de Sades ist zum Teil von jener entsetzlich oberflächlichen, kurzsichtig dilettantischen Art, wie er uns in den depravierten französischen Adelskreisen gerade in den Zeiten kurz vor Ausbruch der Revolution gar nicht selten begegnet. Ein bemerkenswerter Grundzug ist überdies auch hier, ganz

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