wie bei der eben geschilderten Abart des Atheismus, neben der prinzipiell antimonarchischen Gesinnung der fanatische Hass gegen Königtum and Kirche und gegen alle damit zusammenhängenden sozialen Institutionen, - man darf sagen: der Geist eines, auf der sich souverän geberdenden naturalistischen Kritik beruhenden, individualistischen Nihilismus und Anarchismus. Und diese Denkweise lässt de Sade, so leer und gehaltlos sein doktrinärer Radikalismus im übrigen auch ist, immerhin als einen „Vorläufer“ erscheinen, für den sich auch in unseren Tagen des theoretischen und praktischen Anarchistentreibens und des wiederauflebenden Stirner-Kultus manche unerfreuliche Anknüpfung bietet.

Um die geistigen Wurzeln einer solchen Erscheinung wie de Sade in noch grösserer Tiefe blosszulegen, müsste man freilich noch andere dem Volks- und Zeitgeiste angehörige Faktoren in weit grösserem Umfange, als es hier möglich ist, zu berücksichtigen suchen. Es würde dabei jenem eigentümlichen gallokeltischen Elemente des französischen Volkscharakters Rechnung zu tragen sein, dem neben dem frivol-erotischen auch der lüstern-grausame Zug von jeher nicht fehlte und der in Voltaires Kennzeichnung seiner Landsleute als „Tigeraffen“ den zutreffendsten Ausdruck, in sozialen Vorgängen der „grossen“ Revolution bald nachher eine drastische Illustration findet. Es würde ferner auf jenen eigenartigen Geist der in Sittenverderbnis und Degenereszenz hinsiechenden französischen Adelskaste Bezug zu nehmen sein, bei der sich hohler Standesdünkel mit einem frivolen, alles, auch die Grundlagen der eigenen Existenz negierenden und zersetzenden Skeptizismus und Pseudoradikarismus - man denke nur an das Auftreten eines Philippe Egalité - unheilbringend vereinigt. Und endlich müsste vor allem der Zusammenhang mit gewissen Elementen der zeitgenössischen Popularphilosophie in Rechnung gezogen werden, namentlich mit der durch die Enzyklopädisten und ihre seichte Gefolgschaft vertretenen materialistisch-atheistischen Richtung. Es mag als ein in seinen Konsequenzen einem de Sade schon bedenklich nahestehender Repräsentant dieser „Aufklärungsphilosophie“ nur der berüchtigte Verfasser der Histoire naturelle de l’âme und des Homme-machine, Lamettrie, namhaft gemacht werden, den auch des grossen Friedrichs akademische Lobrede und Du Bois-Reymonds etwas geschraubte Ehrenrettung sowie Poritzkys neuere ausgezeichnete Biographie1) uns menschlich kaum näher zu bringen vermögen. Der Aufklärungsstandpunkt für religiöse und ethische Fragen war durch den materialistischen Atheismus der Enzyklopädisten ein für allemal


1)J.E. Poritzky, Lamettrie (Berlin 1900). Man sehe z. B. Lamettries widerwärtige Fehde mit Albrecht von Haller, dem er seinen anonym erschienenen „l’homme machine“ heuchlerisch widmete.

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