Papiertiger

Der Papiertiger: Sartre, Jean-Paul

 
   
   
   
   
   
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Der Papiertiger ist eine Enzyklopädie des Sadomasochismus, zusammengestellt von Datenschlag. Hier erklären wir Begriffe aus dem SM-Bereich und stellen sie in den Zusammenhang der sadomasochistischen Subkultur und ihrer Traditionen.



Französischer Philosoph, 1905-1980, zusammen mit Karl Jaspers einer der stärksten Verfechter der Philosophie des Existentialismus, eine Strömung, die die Bedeutung des Individuums und seiner Freiheit betont. Trotzdem war Sartre sein Leben lang ein überzeugter Marxist und legte seine glühende Bewunderung für die Sowjetunion erst in den 60ern ab. Neben seinen philosophischen Werken verfasste er eine Reihe von Bühnenstücken und Romanen. Obwohl nicht mit ihr verheiratet, war Sartre seit seiner Studentenzeit sehr eng mit Beauvoir, Simone de befreundet und ihre Autobiographien geben einen guten Überblick über sein Leben. Für seine Autobiographie Les Mots 1964 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur angeboten, den er aber ablehnte. Sein letztes Werk war eine umfangreiche Analyse der Arbeit des franz. Schriftstellers Gustave Flaubert aus der Sichtweise des Marxismus und nach den Theorien von Freud, Sigmund.

Sartre Gedanken zum Sadismus und Masochismus werden in seinem Mammutwerk Das Sein und das Nichts1 vorgestellt, das 1943 noch unter deutscher Besatzung in Paris entstand und erst 1952 in einer vollständigen deutschen Übersetzung vorlag. Er selbst scheint niemals einem Sadomasochisten begegnet zu sein; seine Überlegungen fußen völlig auf Vorstellungen, die sich im Rahmen seiner eigenen Theorien gebildet haben sowie vermutlich auf den 1905 vorgestellten Ideen von Freud, Sigmund. Sartres Werk ist, gelinde gesagt, nicht einfach zugänglich ist und beruht auf einem philosophischen Fundament, das hier nicht adäquat wiedergegeben werden kann. Die folgenden Beschreibungen sind sicherlich in dieser Form oberflächlich und müssen in zukünfigen Versionen des Papiertigers ergänzt werden.

Wie fast alle Vorstellungen in der Geschichte der Forschung geht Sartre bei seinen Überlegungen von den streng getrennten Neigungen des Sadismus und Masochismus aus. Zwar taucht das Wort Sadomasochismus auch bei ihm auf, jedoch in einem einzigartigen Zusammenhang: Die "normale" Sexualität wird bei ihm als sadomasochistisch bezeichnet, weil er sie als zwischen den Polen des Sadismus und Masochismus angesiedelt sieht.

Wichtig für das Verständis von Sartres Überlegungen zum Masochismus sind seine Begriffe der Objektivität und Subjektivität. Beide Zustände, also die Existenz als Objekt oder Subjekt, schließen sich gegenseitig aus, und ein Mensch, der mit dem Objektstatus eines anderen Menschen konfrontiert wird, wird selbst zum Subjekt - und umgekehrt. Durch diesen Mechanismus ist nach Sartre anscheinend selbst die Liebe zum Scheitern verurteilt:

Ich (der geliebt werden will) fordere von ihm, dass er mein Sein als bevorzugtes Objekt begründe, indem er sich mir gegenüber als reine Subjektivität erhält; und sobald er mich liebt, empfindet er mich als Subjekt und versinkt angesichts meiner Subjektivität in seine Objektivität.

Vereinfacht gesagt passiert beim Masochismus nach Sartre etwa folgendes: Der Masochist versucht, sich möglichst als ein Objekt darzustellen, aus der Erkenntnis des obengenannten Mechanismus heraus und richtet sein Verhalten darauf hin, möglichst vollständig zum Objekt zu werden. Dadurch wird der Sadist zum Subjekt, denn nur ein Subjekt kann ein Objekt benutzen. Allerdings benutzt der Masochist den Sadisten ja, um seinen eigenenObjektstatus herzustellen und da damit der Sadist wieder zum Objekt wird, ist der Masochist selbst sofort wieder ein Subjekt. Daraus folgert Sartre, dass der Masochismus immer zum Scheitern verurteilt ist. Und weiter wird nach Sartre gerade dieses Scheitern einer Beziehung nach einiger Zeit zum lustvoll erlebten Ziel des Masochisten, ohne dass dieser Zusammenhang wirklich erklärt wird.

Abgesehen von einer Kritik an der philosophischen Grundlage im allgemeinen und der hier wieder vorgenommenen, aus heutiger Sicht nicht sinnvollen Trennung von Masochismus und Sadismus gibt es noch ein offensichtliches Problem: Die Vorstellung, dass ein Masochist oder Bottom vollständig zum Objekt werden möchte. Die von der heutigen Sexualmedizin wie auch von Sadomasochisten selbst vertretene Feststellung, daß die Neigung zu einer Rolle als Top oder Bottom sich in der Regel nur auf den sexuellen Teil der Persönlichkeit bezieht, bedeutet auch, dass ein vollständiger Übergang zum Objektstatus weder möglich noch erwünscht ist.

Ein Sadomasochist, der für eine Session die Rolle als Bottom angenommen hat, sucht nicht nach der vollständigen Umwandlung in ein Objekt, sondern, falls er überhaupt diese Form eines D/S Spiels bevorzugt, nur soweit eine Umwandlung, wie es seinen Neigungen als Bottom entspricht, also innerhalb individueller Grenzen. Dass nach Sartre nur eine vollständige Erniedrigung befriedigen kann, ist eine Version des Vorurteiles des Zwangs zur Steigerung. Fairerweise muß man betonen, dass diese Vorstellung zur Zeit der Veröffentlichung von der damaligen Medizin propagiert wurde und dass die neueren Vorstellungen, wie sie mit dem Bild des Baum des Sadomasochismus dargestellt werden, insbesondere nicht den Vorstellungen von Freud, Sigmund entsprechen, von denen Sartre beeinflusst wurde.

Die 24/7 Beziehung kann nicht als der Modellfall für die sadomasochistische Beziehung gesehen werden, sondern als ein in der Realität selten verwirklichter Sonderfall. Da es durchaus erfolgreiche, nicht-scheiternde Beziehungen in dieser Form gibt, müssen auch hier Sartres Vorstellungen vom "Masochismus" als falsch gesehen werden. Insbesondere das "lustvolle Erleben" einer gescheiterten Beziehung kann nur als wirklichkeitsfremd gesehen werden, auch wenn es noch bis mindestens 1962 in der Sexualmedizin zu finden ist, siehe unten.

Masochimus zählt für Sartre zusammen mit der Liebe und der Sprache zu der "ersten Haltung gegenüber Anderen", erst wenn diese scheitert wird die "zweite Haltung gegenüber Anderen" eingenommen, zu der Gleichgültigkeit, Hass, Begierde und auch der Sadismus gehört. Allerdings kann der Mechanismus auch in anderer Reihenfolge funktionieren, demnach würde erst der Masochismus erst dann entstehen, wenn der Sadismus gescheitert ist. Sadismus und Masochismus können nach Sartre demnach
nicht gleichzeitig in einer Person auftreten.

Der Sadismus, den Sartre mehr Platz widmet, ist schwieriger zu erfassen. Der Leser wird mit Sätzen wie den folgenden konfrontiert:

... ich bin wie ein Schläfer, der beim Aufwachen merkt, dass er seine Hände um die Bettkante krampft, ohne sich an den Alptraum zu erinnern, der seine Bewegung hervorgerufen hat. Dieser Zustand ist der Ursprung des Sadismus.

Auch sind Sartres Gedankengänge hier nicht so klar dargelegt, besonders störend ist eine seitenlange Abschweifung darüber, was genau obszön ist, ein Begriff, der heute ohnehin kaum noch eine Bedeutung hat und durch Sartres Beispiele nicht klarer wird. Grob gesagt versucht der Sadist, sein Opfer "Fleisch werden zu lassen", ihn auf bloßes Fleisch zu reduzieren, gleichzeitig wird das Opfer selbst als Instrument dazu benutzt. Die Motivation des Sadisten wird z.B. so beschrieben:

Der Sadist hat seinen Körper wieder als synthetische Totalität ergriffen; er hat sich wieder auf die fortwährende Flucht vor seiner eignen Faktizität begeben, er erfährt sich angesichts des anderen als reine Transzendenz; er verabscheut für sich das Aufgewühltsein, er betrachtet es als einen demütigenden Zustand ...

Der Sadist soll auch sein eigenes Fleisch zurückweisen und Anmut zu zerstören (siehe unten) versuchen ... wenn Sartres Gedanken zum Sadismus attraktiver wirken als die über den Masochismus, liegt das weniger daran, dass die Gedankengänge klarer oder näher an der Realität sind, sondern dass einige Beispiele durchaus einen gewissen P-Wert haben. Wir finden Passagen wie:

... der Körper ist ganz und gar zuckendes und obszönes Fleisch, er behält die Stellung bei, die die Peiniger ihm gegeben haben, nicht die, die er von selbst eingenommen hätte, die Stricke, die ihn binden, halten wie ein inertes Ding und eben dadurch hat er aufgehört, das Objekt zu sein, das sich spontan bewegt.

Oder:

Und das Schauspiel, das sich dem Sadisten bietet, ist das einer Freiheit, die gegen das Aufblühen des Fleisches kämpft und schließlich frei wählt, sich durch das Fleisch überwältigen zu lassen.

Über den Sadismus kann innerhalb des Gedankengebäudes von Sartre kaum sinnvoll diskutiert werden. Er führt ihn zusammen mit Hass und Gleichgültigkeit auf und bezeichnet ihn als Kälte und Versessenheit. Mit konsensuellem Sadomasochismus, wie er hier besprochen wird, hat Sartres Darstellung wenig zu tun. Sonst lässt sich auch nicht erklären, wie der Blick des Opfers (Bottoms) eine sadomasochistische Session zerstören, den Sinn und Zweck des Sadismus zusammenbrechen lassen soll - gerade der Blickkontakt zwischen Top und Bottom gehört zu den emotionalsten, grundlegendsten Kommunikationsformen währen einer Session. Und im Gegenteil stärkt die Explosion in dem Blick des Anderen, wie Sartre sie nennt, die Beziehung zwischen Sadomasochisten, hebt das sadomasochistische Erleben auf eine Ebene, die über das Körperliche hinausgeht, statt sie aufzuheben oder zu vernichten.

Sartres Überlegungen zum Sadismus sind zumindest für den konsensuellen Sadomasochismus ohne Bedeutung. Das wird spätestens dann deutlich, wenn Sartre davon spricht, dass das Opfer sein Verhalten in der Session später als Reue und Scham erlebt, etwas, was weder Top noch Bottom wünschen. Sprich, was bei Sartre der Beweis für den "erfolgreichen" Sadismus sein soll, ist für den konsensuellen Sadomasochisten eine Katastrophe.

Interessanterweise berührt Sartre für einen Satz das Prinzip des Machtmodell (s. Eintr.: Machtaustausch)s, nur um es gleich zu verwerfen:

Man hat behauptet, das geschähe aus Herrschsucht, aus Willen zur Macht. Aber diese Erklärung ist vage oder absurd. Und diese Sucht kann gerade nicht dem Sadismus als dessen Grund vorausgehen, denn sie entsteht wie er und auf der gleichen Ebene wie er aus der Unruhe gegenüber dem anderen.

In diesem Zusammenhang ist es besonders bedauerlich, daß auch ernsthafte Forscher Sartres Vorstellungen übernommen haben, siehe unten.

Grundlage des Sadismus wie des Masochismus ist für Sartre die Übernahme von Schuld, eine Vorstellung, die inzwischen Allgemeingut geworden ist und heute eins der klassischen Vorurteile gegenüber dem Sadomasochismus darstellt (vgl. auch Lesben und (LV WAR WEST, FEHLT). Unklar ist, ob Sartre der erste war, der es so formulierte. Er begründet dies wie folgt:

Der Masochismus ist, ebenso wie der Sadismus, Übernahme von Schuld. Ich bin ja schon deshalb schuldig, weil ich Objekt bin. Schuldig mir gegenüber, da ich meiner absoluten Entfremdung zustimme, schuldig dem Anderen gegenüber, da ich ihm den Anlass verschaffe, schuldig zu werden, das heißt, meine Freiheit als solche radikal zu verfehlen.

Warum jemand sich schuldig fühlen sollte, weil er zum sexuellen Vergnügen und nur zum sexuellen Vergnügen eine Objektrolle annehmen will, sprich, sich gehen lassen will, ist nicht einzusehen. Warum man sich schuldig fühlen sollte, weil man jemanden die Gelegenheit gibt, eine solche Rolle zu sexuellen Vergnügen anzunehmen, sich gehen zu lassen, ebensowenig. Hier muss die Frage erlaubt sein, inwieweit Sartres Werke von einer überkommenen, allgemein schuldbehafteten Sexualmoral geprägt sind.

Eine Möglichkeit zur Kombination von Sadismus und Masochismus zu der von der Wissenschaft und den Sadomasochisten selbst inzwischen akzeptierten Vorstellung des Sadomasochismus gibt es innerhalb von Sartres Ideen nicht. Auch die Existenz oder auch nur Möglickeit einer sadomasochistischen Subkultur wird bei Sartre nirgends erwähnt: Es gibt lediglich die auf Freud, Sigmund und Krafft-Ebing, Richard basierende Vorstellung des einzelnen Kranken.

Das wirklich Erschreckende an Sartre sind aber nicht seine Ideen selbst, sondern ihr Einfluss auch auf eigentlich streng wissenschaftliche Texte, und dass diese Vorstellungen von Forschern ohne große Kritik für lange Zeit mit harten Daten gleichgesetzt wurden. So ist der Eintrag zum Sadomasochismus in2 streckenweise wenig mehr als ein fast wörtliches Zitat von1. Wo Sartre sich aber Hunderte von Seiten Zeit nimmt, um die genaue Bedeutung von Begriffen wie Objekt-Ich oder assimilieren zu erklären, baut Giese sie ohne weitere Erklärung ein. Selbst die Vorstellung, daß Masochisten Lust am Scheitern einer Beziehung empfinden, wurde von Giese kritiklos übernommen.

Man könnte vermuten, dass so in der wissenschaftlichen Betrachtung des Sadomasochismus ein Teufelskreis entstanden ist, den erst die neuere, sich wieder auf empirische Daten stützende Forschung durchbrechen konnte: Sartres Vorstellungen wurden von den Medizinern übernommen, spätere Philosophen stützen sich auf deren Bücher mit der Vorstellung, sich auf eine gesicherte naturwissenschafltiche Basis zu stützen. Und die nächste Generation von Ärzten lässt sich dann von diesen philosophischen Ideen beim Entwurf ihrer Experimente leiten.

Zusammenfassend muß Sartre wegen der fast völligen Realitätsferne, der enormen Verbreitung, der recht unkritischen Aufnahme seiner Werke durch die Sexualmedizin als geschichtlich für den Sadomasochismus destruktiv gesehen werden. Die Vorurteile, die durch seine Gedankenspiele fast beiläufig entstanden sind, hängen der seriösen Forschung über 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung immer noch wie Blei an den Füßen.

Literaturhinweise:

1 Sartre, Jean-Paul:
    Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie.  [Details]
2 Giese, Hans:
    Psychopathologie der Sexualität  [Details]

 

Auf diesen Eintrag verweisen: Beauvoir, Simone de, Exhibitionismus, Freud, Sigmund, Geschichte der Forschung, Lesben, Philosophie, Sadomasochismus, Schuldgefühle, Vorurteile

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Stand: 08.03.2003.

 

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